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Welche Kognitions- und Verhaltensmerkmale sind typisch für das Cornelia-de-Lange-Syndrom?


Die Kognitions- und Verhaltensmerkmale bei CdLS können sich je nach Individuum sehr stark unterscheiden und variieren im Schweregrad von relativ leicht bis schwer. „Kognitionsmerkmale” sind die Prozesse im Gehirn, die an Fähigkeiten wie Denken, Lernen, Erinnern, Aufmerksamkeit oder Lesen beteiligt sind. „Exekutive Funktionen” beschreibt eine Gruppe von kognitiven Prozessen im Gehirn, die unser Verhalten steuern und regeln. Verhaltensmerkmale, die Menschen mit einem bestimmten Syndrom deutlich häufiger zeigen als Menschen ohne dieses Syndrom, werden als „Verhaltensphänotyp“ für das jeweilige Syndrom zusammengefasst.

Intelligenzminderung

Der Begriff „Intelligenzminderung“ (laut ICD-10-Code) wird für Personen mit Schwierigkeiten mit der kognitiven (geistigen) Funktion und dem adaptiven Verhalten (alltägliche praktische und soziale Fähigkeiten) verwendet. Oft spricht man auch von einer Entwicklungsstörung oder Lernbeeinträchtigung. Intelligenzminderungen werden nach ihrem Schweregrad als „leicht“, „mittelgradig“, „schwer“ und „schwerst“ eingestuft. Diese Einteilung richtet sich nach den Auswirkungen, die die Intelligenzminderung auf die Alltagsfunktionen der Einzelperson hat.

Die meisten Menschen mit CdLS weisen eine mittelgradige bis schwere, ein kleiner Teil eine leichte Intelligenzminderung auf. In der Forschung findet man Hinweise, dass Personen mit CdLS, bei denen das Syndrom durch eine NIPBL-Mutation verursacht ist, gewöhnlich eine niedrigere kognitive Funktion aufweisen als Menschen mit CdLS, bei denen das Syndrom durch eine Mutation in einem anderen bekannten CdLS-Gen, SMC1A, verursacht ist  (3). Der Typ der NIPBL-Mutation scheint nicht zwangsläufig mit dem Grad der Intelligenzminderung verknüpft zu sein (11,26,137), wenngleich man beim Typ der Missense-Mutation (Punktmutation) festgestellt hat, dass er weniger schwergradige Effekte bewirkt. Es können aber auch Personen mit einer NIPBL-Mutation eine Intelligenzminderung leichten Grades aufweisen(138).

Exekutive Funktionen

Wie oben beschrieben, sind „exekutive Funktionen“ die Prozesse im Gehirn, die unser Verhalten steuern und regulieren. Menschen mit CdLS zeigen spezifische Schwierigkeiten in ihren exekutiven Funktionen. Gewöhnlich beziehen sich diese Schwierigkeiten auf die „kognitive Flexibilität“ (die Fähigkeit, zwischen Gedanken zu wechseln oder die Aufmerksamkeit zu verlagern) und das visuelle Kurzzeitgedächtnis  (139). Andererseits können bestimmte exekutive Funktionen, wie z. B. die Inhibition oder inhibitorische Kontrolle (das Stoppen einer Verhaltens- oder sprachlichen Reaktion) relative Stärken bei CdLS sein(140).

Die Fähigkeiten der exekutiven Funktionen bei CdLS scheinen mit Aspekten des CdLS-Verhaltensphänotyps verknüpft zu sein. So können z. B. Schwierigkeiten in den exekutiven Funktionen bei CdLS mit regelmäßigem repetitivem Verhalten und sozialer Angst verknüpft sein (139,140).

Menschen mit CdLS kann es helfen, wenn ihre Umgebung entsprechend ihren kognitiven Stärken und Schwächen strukturiert wird. Außerdem können Enrichment-Strategien eingesetzt werden, um die kognitiven und Lernfähigkeiten bei Menschen mit CdLS zu fördern.

Sensorische Integration

 „Sensorische Integration” ist die Art und Weise, wie das Gehirn die Wahrnehmungen aller Sinne aufnimmt und verarbeitet. Dies bezieht sich auf die fünf klassischen Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen –, aber auch auf die zwei anderen Sinne, nämlich Gleichgewichtssinn und Kraft- und Bewegungssinn: In welcher Stellung befinden sich mein Körper und meine Gliedmaßen; wie viel Kraft setze ich ein?

Schwierigkeiten bei der sensorischen Integration können eine Hyposensitivität oder Hypersensitivität bewirken (141,142,143). Bei einer Hyposensitivität reagiert eine Person nur wenig auf Reize und kann die Informationen von den Sinnen nur schlecht verarbeiten. Bei einer Hypersensitivität reagiert eine Person übermäßig auf Reize. So werden z.B. gewöhnliche Geräusche als schmerzhaft oder überfordernd wahrgenommen werden. Menschen mit Hypersensitivität haben meist sehr niedrige sensorische Schwellen, d.h. ihr sensorisches System wird schon durch sehr geringe sensorische Einflüsse aktiviert.

Die meisten Menschen mit CdLS haben Schwierigkeiten mit der sensorischen Integration (145), unabhängig vom Grad ihrer Intelligenzminderung  (146). Zusätzlich zur Hypo- oder Hypersensitivität können Verwirrtheit oder eine Fixierung auf sensorische Reize auftreten. So können z. B. gastrointestinale Probleme oder andere Organstörungen zu Angst, Stimmungsschwankungen und Selbstverletzungen führen. Menschen mit CdLS und begleitender  Autismus-Spektrum-Störung (ASS) können niedrigere sensorische Schwellen aufweisen (141) und abwehrend auf sensorische Reize reagieren (147). Hyper- und Hyposensitivität und andere Schwierigkeiten bei der sensorischen Integration müssen untersucht werden, und unterstützende Strategien sollten bei Menschen mit CdLS über die gesamte Lebensdauer eingesetzt werden (R50).  Interventionen sollten sich auf den sensorischen Bedarf der Einzelperson richten, wenn ihre Entwicklung und Teilnahme am täglichen Leben verbessern sollen(146).

Adaptives Verhalten bei CdLS

„Adaptives Verhalten” ist das altersangemessene Verhalten, das Menschen benötigen, um im Alltag gut zu funktionieren und selbstständig zu leben. Zum adaptiven Verhalten zählen die Alltags- oder lebenspraktischen Bereiche, wie Ankleiden, Körperpflege, Umgang mit Lebensmitteln, Sicherheit, Knüpfen von Freundschaften, Kommunikation, Sauberkeit, Umgang mit Geld und die Fähigkeit, einer Arbeit nachzugehen.
Menschen mit CdLS zeigen Schwierigkeiten in ihrem adaptiven Verhalten über die gesamte Lebensspanne. Das heißt, viele Kinder wie auch Erwachsene mit CdLS benötigen Hilfe bei täglichen Aufgaben wie dem Waschen und Ankleiden. Viele Menschen mit CdLS entwickeln keine verbalen Kommunikationsfertigkeiten. Die expressive Sprachfähigkeit (sich mit Worten auszudrücken) ist meist deutlich stärker eingeschränkt als die rezeptive Sprachfähigkeit (sprachliche Äußerungen zu verstehen). Menschen mit CdLS verwenden für ihre Kommunikation oft eine Reihe nonverbaler Methoden, z. B. soziale Annäherung oder das Wegschieben der Hand einer Person.

Störungen des adaptiven Verhaltens sind oft ausgeprägter bei Personen mit durch NIPBL-Mutation verursachtem CdLS(148,149). Die Schwierigkeiten im adaptiven Verhalten bei CdLS sind vergleichbar mit denen beim Angelman-Syndrom und Rubinstein-Taybi-Syndrom, obwohl die adaptiven Defizite bei CdLS meist ausgeprägter sind als bei anderen genetischen Erkrankungen (151,152,153,150). Die Fähigkeiten des adaptiven Verhaltens können sich im Laufe der Zeit verändern, und die Veränderungen sind oft je nach spezifischer Fähigkeit unterschiedlich. Zum Beispiel verbessern sich mit zunehmendem Alter oft spezifische Fertigkeiten der Selbstständigkeit (z. B. Waschen und Essen), während andere Fertigkeiten sich verschlechtern (z. B. die Fähigkeit, um Hilfe zu rufen oder sich selbstständig zu bewegen) (10,154,109). Jedoch unterscheiden sich die Berichte über die Veränderungen des adaptiven Verhaltens, und es besteht Bedarf an weiterer Forschung (109,155).

Zur Verbesserung der Selbstständigkeit ist es bei CdLS wichtig, über die ganze Lebensspanne an den adaptiven Fähigkeiten zu arbeiten. Die kognitiven Stärken und Schwächen sollten eingestuft und daraufhin ein persönlicher Bildungs- und Interventionsplan erstellt werden, der die spezifischen Ziele für die Person enthält. Zusätzliche Entwicklungs- und Bildungsunterstützung sollte Menschen mit CdLS zukommen, damit sie ihr maximales kognitives und (Aus-)Bildungspotenzial vor dem Hintergrund ihrer spezifischen kognitiven Beeinträchtigung ausschöpfen können (R51,R52,R53).

Selbstverletzendes und aggressives Verhalten

Selbstverletzendes Verhalten bezeichnet ein absichtliches Verhalten mit dem Potenzial, körperliche Schäden zu verursachen, wie Rötung der Haut, Hämatome, Blutungen, Haarverlust u.ä. Selbstverletzendes Verhalten tritt bei Menschen mit CdLS häufig auf und beinhaltet Verhaltensweisen wie sich selbst zu schlagen, mit dem Kopf anzustoßen oder sich selbst zu beißen  (156), obgleich dies bei dem Syndrom nicht zwangsläufig so sein muss. Einige Verhaltensmerkmale bei CdLS können mit selbstverletzendem Verhalten identisch sein, ohne dass sie körperliche Schädigungen bewirken. Solche Verhaltensweisen können sich im Laufe der Zeit zu einem selbstverletzenden Verhalten entwickeln (157).

Es gibt mehrere Risikomarker für selbstverletzendes Verhalten bei CdLS. Personen mit stärkeren Einschränkungen in ihren kognitiven Fähigkeiten, Kommunikationsfertigkeiten und ihrem adaptiven Verhalten zeigen mit größerer Wahrscheinlichkeit selbstverletzendes Verhalten. Ebenfalls zu den Risikomarkern gehören CdLS mit NIPBL-Genmutation als Ursache, erhöhte Grade an Impulsivität und repetitivem Verhalten sowie Merkmale einer Autismus-Spektrum-Störung (156).

Etwa die Hälfte der Menschen mit CdLS zeigt ein klinisch signifikantes selbstverletzendes Verhalten (158). Gewöhnlich richtet sich dies auf die eigenen Hände (159). Selbstverletzendes Verhalten kann zu körperlichen Schäden führen, deren Schwere anhand des Grades der Schädigung und des Funktionsverlusts eingestuft wird (156). Manchmal muss die Person physisch daran gehindert werden, sich dauerhaften Schaden zuzufügen (107).

Selbstverletzendes Verhalten bei CdLS kann ein Anzeichen oder eine Reaktion auf Schmerzen sein und wurde mit den bei CdLS häufigen medizinischen Störungen in Verbindung gebracht, wie Problemen des Verdauungssystems, Ohrinfektionen, Verstopfung, Zahnkrankheiten oder Hüftprobleme. Es ist wichtig, die Ursache des selbstverletzenden Verhaltens zu identifizieren. Dies erfordert oft ärztliche Untersuchungen, bei denen die Schmerzquellen ermittelt, Verhaltensmerkmale beurteilt und auch die Umgebungen der Person berücksichtigt werden. Auf Grundlage dieser Befunde können Behandlungs- oder Interventionsstrategien auf die Funktion zugeschnitten werden, die das selbstverletzende Verhalten für die Person hat. Behandlungen sollten sowohl medizinische als auch verhaltensbezogene Strategien umfassen (R54,R55).

Repetitives Verhalten

Der Begriff „repetitives Verhalten” fast ein breites Spektrum von Verhaltensweisen zusammen, z. B. Stereotypien (wie Schaukeln des Oberkörpers, Sichdrehen, Händeflattern), Zwangsverhalten (wie das Aufreihen von Gegenständen), das Bestehen auf immer gleichen Abläufen (wie das Festhalten an Routinen) oder repetitive Sprache (wie das Stellen derselben Fragen immer wieder und wieder). Einige dieser Verhaltensweisen sind typisch für bestimmte Entwicklungsphasen bei Kindern mit normaler Entwicklung. Bei einigen Krankheiten, so auch bei CdLS, treten sie aber auch in untypischem Alter auf. Repetitives Verhalten bei CdLS kann durch Angst, sensorische Probleme oder soziale Anforderungen hervorgerufen werden (161, 162,163). Regelmäßiges repetitives Verhalten ist meist bei Personen mit ausgeprägterer Intelligenzminderung oder mit ASS zu beobachten (161,163). ereotypien und Zwangsverhalten treten bei CdLS häufig auf (162), nd können auch Rituale wie das Aufreihen oder Anordnen von Objekten nach einer Ordnung beinhalten. Repetitives Verhalten bei CdLS scheint nicht mit der genetischen Ursache des Syndroms in Zusammenhang zu stehen (10) und in Forschungen zum repetitivem Verhalten bei CdLS hat man keine deutlichen Veränderungen dieses Verhaltens im Zeitverlauf festgestellt (161,163).

Ein Intervenieren beim repetitiven Verhalten ist eigentlich nur dann angemessen, wenn das Verhalten ein Problem für die Person darstellt. Sind Interventionen notwendig, dann sollte man dabei die Funktion und die Gründe des repetitiven Verhaltens (z. B. Angst) ermitteln und berücksichtigen. Daneben sind auch Umgebungsfaktoren, wie z. B. eine Vorhersagbarkeit der Tagesstruktur für das Kind, zu erwägen.

Spezifische Medikationen wie selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) (z. B. der Wirkstoff Fluoxetin) sind insbesondere bei Zwangsverhalten und depressiven Verstimmungen im Zusammenhang mit CdLS eingesetzt worden, wenngleich sie hinsichtlich der Reduktion von repetitivem Verhalten bei Menschen mit Autismus keinen Erfolg gezeigt haben. Solche Medikamente können eine Verschlechterung der Verhaltensmerkmale bewirken oder andere Verhaltensmerkmale hervorrufen. Eine weitere Arzneimittelgruppe, die sogenannten Antipsychotika der 2. Generation, kann bei CdLS speziell zur Linderung der Körpersteife und des Bedürfnisses nach ständiger Gleichartigkeit, das sich zu Aggressionen wandeln kann, eingesetzt werden.

Soziale Funktion und Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

ASS, soziale Angst und depressive Verstimmungen sind häufig auftretende Schwierigkeiten bei Menschen mit CdLS(109,137,152,154,165,166,167,168,169). Solche neurologischen oder psychischen Störungen scheinen nicht mit dem spezifischen Gen oder der speziellen Genmutation verknüpft zu sein, die das CdLS bei der Person verursacht (10,137,148,149,169). Da die meisten Menschen mit CdLS nicht in der Lage sind, über ihr Unwohlsein, ihr Verhalten oder ihre Gefühle zuverlässig Auskunft zu geben, kann es schwierig sein zu ermitteln, worunter sie gerade leiden. Häufig werden die Schwierigkeiten nur durch Beobachtung des Verhaltens bzw. durch Berichte von Eltern oder Betreuungspersonen erkannt. Verhaltensweisen, die auf Schwierigkeiten der Person hindeuten, können das Vermeiden von Augenkontakt, Wegstoßen oder Schreien sein (80,170,171). Solches Verhalten wird oft mit dem sozialen Setting in Zusammenhang gebracht und kann durch Belastungen bei den Eltern bedingt sein (109,137).

Etwas weniger als die Hälfte der Personen mit CdLS zeigt Symptome einer ASS (159). Zu den drei wichtigsten Merkmalen der ASS gehören:

  • Geringe oder ungewöhnliche Fertigkeiten der sozialen Interaktion
  • Verzögerte Entwicklung oder Schwierigkeiten in der verbalen und nonverbalen Kommunikation (z. B. Gesten, auf etwas weisen oder zeigen)
  • Vorliegen von repetitivem Verhalten

Bei durch NIPBL-Mutation verursachtem CdLS scheint die ASS mit einem schlechter ausgeprägten adaptiven Verhalten verknüpft zu sein (10). Eine ASS ist in Betracht zu ziehen, wenn eine Person mit CdLS soziale, kommunikative und Verhaltenseinschränkungen an den Tag legt, die über das hinausgehen, was bei anderen Personen mit entsprechender kognitiver Fähigkeit zu erwarten wäre.
Symptome einer ASS bei CdLS sind nicht immer direkt mit dem Grad der Intelligenzminderung verknüpft (150,172,173). Forschungen haben ergeben, dass im Vergleich zur ASS die Personen mit CdLS zwar viele Ähnlichkeiten, aber auch kleine Unterschiede in spezifischen Bereichen der Kommunikation und sozialen Interaktion zeigen (173). Diese kleinen Unterschiede beziehen sich insbesondere auf soziale Angst (Sorgen), extreme Scheuheit und selektiven Mutismus (nicht sprechen in sozialen Situationen, wo das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), allesamt häufigere Merkmale bei CdLS (2,65,109,150,152). Die Unterschiede in der Kommunikation und sozialen Interaktion bei CdLS und ASS treten mit zunehmendem Alter und mit steigenden sozialen Anforderungen deutlicher zutage. Soziale Motivation, soziale Kommunikation und Fähigkeit zur Freude sind bei CdLS und ASS ähnlich ausgeprägt (175).

Eine klinische Diagnose einer ASS ist bei allen Personen mit CdLS ein Leben lang in Betracht zu ziehen, wobei untypische Ausprägungen zu berücksichtigen sind (R56). Für die Untersuchung auf ASS bei CdLS können standardisierte ASS-Diagnosewerkzeuge herangezogen werden. Wichtig sind außerdem detaillierte Beobachtungen, um ASS und soziale Funktion korrekt beurteilen zu können und um den Grad und die Merkmale der kommunikativen, adaptiven und sprachlichen Fähigkeiten einer Person mit CdLS zu ermitteln (R57). ASS-spezifische Interventionen sind bei allen Personen mit CdLS zu erwägen; jedoch müssen bei Interventionen in Bezug auf die sozialen Funktionen die CdLS-spezifischen Aspekte von Kommunikation und sozialer Interaktion unbedingt einbezogen werden (65,66,174) (R58).

Angst

Angst ist bei Menschen mit CdLS häufig anzutreffen. Angst bei CdLS stellt sich meist als soziale Angst dar (übermäßiges Sorgen über Ereignisse des Alltags ohne offensichtlichen Grund zur Sorge), als Trennungsangst (übermäßige Angst vor oder bei Trennung vom Zuhause oder einem Elternteil/einer Betreuungsperson) oder als selektiver Mutismus dar (das Nichtsprechen in sozialen Situationen, wo Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule) (168,148).

Angst kann bei CdLS zu einer Verstärkung von repetitivem Verhalten, Stimmungssymptomen, Aggressionen oder Selbstverletzungen führen (109). Es ist wichtig, bei allen Interventionen, die sich auf problematisches repetitives Verhalten bei einem Menschen mit CdLS richten, auch Faktoren wie Angst, sensorische Schwierigkeiten und soziale Anforderungen sowie Umgebungsfaktoren explizit einzubeziehen (R59).

Auch soziale Interaktionen können bei Menschen mit CdLS Angst verursachen und zu sichtbaren Verhaltensreaktionen führen, wie motorische Unruhe (Fidgeting), Vermeiden von Blickkontakt und aktive Meidung (152,175). Viele Menschen mit CdLS bevorzugen gleichbleibende Abläufe und Umgebungen, was bedeutet, dass sie oft Schwierigkeiten haben, sich an Veränderungen ihrer Routine anzupassen. Das macht Phasen eines Übergangs für sie besonders herausfordernd und kann Angst verursachen (148,162,174). Für Übergangszeiträume kann eine Vorabplanung helfen, sich an die Veränderung anzupassen und die Angst zu reduzieren (R61).

Die Einstufung von Angst bei CdLS kann besonders bei Personen, die ein herausforderndes Verhalten, wie Selbstverletzungen, Aggressionen, Schreien und Kreischen an den Tag legen, erschwert sein  (137). Oftmals lassen sich Angst- und Stimmungsstörungen durch Beobachtung der Verhaltensveränderungen der CdLS-Betroffenen ermitteln (R60). Zur Abhilfe bei Angst und Stimmungsstörungen können psychosoziale Interventionen (Therapien zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens) und/oder eine medikamentöse Behandlung herangezogen werden (R62).

Kommunikation und Sprache

Die Kommunikationsfähigkeiten variieren beim CdLS stark. Typischerweise haben Menschen mit CdLS größere Schwierigkeiten mit der Kommunikation, und viele Personen entwickeln keinerlei verbale Sprache. Die Sprachschwierigkeiten bei CdLS resultieren oft aus einem anormalen Muskeltonus. Aber auch Sehbeeinträchtigungen, Hörverlust und Mundstruktur- oder Kieferabnormitäten (z. B. Gaumenspalte) können die Ursache für Sprach- und Kommunikationsstörungen sein. Die Schwierigkeiten in der Kommunikation und im Verständnis von Gesprochenem können auch aus einer kognitiven Beeinträchtigung entstehen (Probleme mit dem Gedächtnis, dem Denken und der Kommunikation) (176,178).
Gegenwärtig wird wenig zu der Beziehung zwischen geistiger Funktion, Verhalten und Kommunikationsfähigkeiten bei CdLS geforscht (169). 

Kleine Kinder mit CdLS kommunizieren oft mit einem Schreien mit tiefer Stimme. Später sprechen sie mit einer leisen monotonen (ausdruckslosen) Stimme (140,179). Selektiver Mutismus (Stummheit in sozialen Situationen, wo Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule) ist ein häufiges Phänomen bei CdLS. Selektiver Mutismus bei CdLS kann als Teil einer Autismus-Spektrumstörung (ASD) oder als Ausdruck von Angst auftreten  (148,152). Expressive Sprachstörungen treten bei CdLS häufig auf (170,176,177). Menschen mit CdLS haben gewöhnlich ausgeprägtere Schwierigkeiten mit der expressiven Sprache (selbst zu sprechen) als mit der rezeptiven Sprache (Fähigkeit, Gesagtes zu verstehen). Rezeptive Sprachstörungen bei CdLS beziehen sich meist spezifisch auf die Satzstruktur des Gehörten (138).

Personen mit CdLS entwickeln häufig Methoden der nonverbalen Kommunikation. Zu den nonverbalen Kommunikationsfertigkeiten können ein Sichnähern, Berühren, Zeigen, Weisen, Geben oder Gesten gehören. Diese Methoden der nonverbalen Kommunikation sind oft kaum merklich und können leicht übersehen werden (178). Hilfreich kann es sein, der Person eine Zeichensprache wie Makaton beizubringen.

Behalten Sie jedoch vor Augen, dass Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten nicht bei allen Menschen mit CdLS auftreten. Einige Betroffene entwickeln gute Sprech- und Sprachfähigkeiten.

Soziale Angst und Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion können sich negative auf die Sprachfähigkeit und die Anwendung von nonverbaler Kommunikation auswirken (138,174). Kommunikationsstörungen bei CdLS sind außerdem mit schwierigem Verhalten wie Selbstverletzungen oder Aggression verknüpft und treten oft begleitend dazu auf (3).

Bei der Einschätzung der Kommunikationsfähigkeit bei CdLS gilt es zu berücksichtigen, ob die Person Seh- oder Hörprobleme, eine motorisch bedingte Sprechbehinderung, kognitive Beeinträchtigung, Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion oder soziale Angst aufweist (R63).

Effektive verbale und nonverbale Kommunikationsfähigkeiten können die Lebensqualität bei Menschen mit CdLS deutlich verbessern. Auf den individuellen Entwicklungsstand zugeschnittene kommunikative Interventionen können angewandt werden, um der Person zu helfen, effektivere Kommunikationsfertigkeiten zu entwickeln. Dies kann schon in den ersten 18 Lebensmonaten eingeleitet werden (138,181,182). Zu den kommunikativen Interventionen können Sprechtherapie oder Unterstützte Kommunikation (UK; die internationale Bezeichnung ist „Alternative and Augmentative Communication, AAC) gehören (R64). Die UK kann die Verwendung von Gesten, Symbolen, Bildern und Schrift beinhalten. Eine Beurteilung des Kommunikationsniveaus und der Einschränkungen der individuellen Person helfen bei der Entscheidung, welche Art der Kommunikationsintervention die wirksamste sein wird (180).

Die Eltern sind normalerweise die Experten, was das Verständnis der kommunikativen Signale ihres Kindes betrifft. Die Erfahrung der Eltern über die Jahre ist unschätzbar und für Verhaltensexperten und Logopäden äußerst hilfreich. Das Erkennen und Identifizieren kleiner Kommunikationssignale, das Bewusstsein für die eigenen Reaktionen und das Verstehen ihrer Bedeutung ermöglicht es, die Kommunikation und die Reaktionen anzupassen. Das sogenannte „Responsive education and prelinguistic milieu teaching” (RPMT) – das Anordnen von Gegenständen in der Umgebung des Kindes, sodass eine Situation geschaffen wird, die zu kommunikativem Verhalten anregt – sowie Videobeobachtungen können äußerst nützlich sein, um feine Kommunikationssignale, ihre Bedeutungen und angemessene Reaktionen zu erkennen und zu identifizieren. Das betrifft besonders Personen mit deutlichen kognitiven Einschränkungen (183,184).

Zusammenfassung

Welche Kognitions- und Verhaltensmerkmale sind typisch für das Cornelia-de-Lange-Syndrom?:
R50: Bei Personen mit CdLS müssen Hyper- und Hyposensitivität (sensorische Über- und Unterempfindlichkeit) und andere Schwierigkeiten in der sensorischen Verarbeitung untersucht und lebenslange Strategien zur Unterstützung umgesetzt werden.
R51: Die Stärkung der adaptiven Fähigkeiten mit dem Ziel einer größeren Selbstständigkeit sollte lebenslang im Vordergrund stehen und auf die Person abgestimmte spezifische Zielsetzungen und Lehrstrategien umfassen.
R52: Menschen mit CdLS müssen zusätzliche Unterstützung in ihrer Entwicklung und Schulbildung erhalten, um im Rahmen ihrer individuellen kognitiven Beeinträchtigung ihr maximales kognitives und Lernpotenzial zu erreichen.
R53: Die kognitiven Stärken und Schwächen von Menschen mit CdLS müssen eingestuft werden, um Strategien für ihren Bildungsweg und mögliche Interventionsstrategien zu erarbeiten.
R54: Um die Ursache für selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit CdLS zu ermitteln, sind medizinische Untersuchungen mit Fokus auf möglichen Schmerzquellen notwendig, gefolgt von einer Verhaltenseinstufung zum Aspekt der Selbstbeherrschung und einer anschließenden funktionalen Analyse.
R55: Die Behandlung von selbstverletzendem Verhalten muss sowohl medizinische als auch verhaltensbezogene Strategien umfassen.
R56: Für Personen mit CdLS in jeder Altersstufe ist die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu erwägen, wobei atypische Erscheinungsbilder berücksichtigt werden müssen.
R57: Zusätzlich zu den standardisierten ASS-Diagnosewerkzeugen sind auch genaueste Beobachtungen sinnvoll, um das individuelle Profil der sozialen Funktion exakt zu ermitteln.
R58: Bei allen Personen mit CdLS sind ASS-spezifische Interventionen zu erwägen, kombiniert mit Ansätzen, die auch das breitere Profil der sozialen Funktion bei diesem Syndrom berücksichtigen.
R59: Bei Interventionen, die auf problematisches repetitives Verhalten bei Menschen mit CdLS zielen, müssen Aspekte wie Angst, sensorische Probleme und soziale Anforderungen sowie auch Faktoren des Umfelds berücksichtigt werden.
R60: Bei Auftreten von Verhaltensveränderungen sind auch atypische Ausprägungen von Angst- und Stimmungsstörungen zu berücksichtigen.
R61: Da Angst während Veränderungs- oder Übergangsphasen des Umfelds ein häufiges Phänomen bei Menschen mit CdLS ist, sollten potenziell beängstigende Situationen nach einem vorgeplanten Programm abgewickelt werden.
R62: Zur Behandlung von Angst- und Stimmungsstörungen bei Personen mit CdLS sind psychosoziale Interventionen (Therapien) sowie Pharmakotherapie, also die Gabe von Medikamenten, zu erwägen.
R63: Bei der Einstufung der Kommunikationsfähigkeit sind Seh- und Hörprobleme, Sprachbehinderungen, geistige Einschränkung, Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion sowie soziale Angst zu berücksichtigen. Hier können Videoaufnahmen sehr hilfreich sein.
R64: Mit an die Entwicklung angepassten Kommunikationsstrategien (wie Sprachtherapie, gestützte Kommunikation) sollte innerhalb der ersten 18 Lebensmonate begonnen werden.

Antonie D. Kline, Joanna F. Moss, […]Raoul C. Hennekam
Antonie D. Kline, Joanna F. Moss, […]Raoul C. Hennekam

Adapted from: Kline, A. D., Moss, J. F., Selicorni, A., Bisgaard, A., Deardorff, M. A., Gillett, P. M., Ishman, S. L., Kerr, L. M., Levin, A. V., Mulder, P. A., Ramos, F. J., Wierzba, J., Ajmone, P.F., Axtell, D., Blagowidow, N., Cereda, A., Costantino, A., Cormier-Daire, V., FitzPatrick, D., Grados, M., Groves, L., Guthrie, W., Huisman, S., Kaiser, F. J., Koekkoek, G., Levis, M., Mariani, M., McCleery, J. P., Menke, L. A., Metrena, A., O’Connor, J., Oliver, C., Pie, J., Piening, S., Potter, C. J., Quaglio, A. L., Redeker, E., Richman, D., Rigamonti, C., Shi, A., Tümer, Z., Van Balkom, I. D. C. and Hennekam, R. C. (2018).

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Zuletzt geändert von Gerritjan Koekkoek am 2023/08/29 13:55
Erstellt von Gerritjan Koekkoek am 2019/03/27 15:09
In de übersetzt von Gerritjan Koekkoek am 2023/02/10 13:32